Die letzte Zugfahrt
(Eine zehnstündige Reise ins Grauen)
Stunde 1: Der Zug
Tobias stand auf dem trostlosen Bahnsteig, eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht. Der Wind heulte durch die verlassene Station, und das flackernde Neonlicht über ihm tauchte seine Umgebung in ein unnatürliches, kaltes Weiß. Der Zug sollte in wenigen Minuten eintreffen, aber irgendetwas fühlte sich falsch an.
Dann hörte er es.
Ein schrilles Kreischen durchschnitt die Stille, als der Zug in die Station einfuhr. Doch es klang nicht wie das übliche Quietschen von Metall auf Metall – es klang… lebendig. Ein erstickter Schrei, der im Inneren der Bremsen gefangen war. Tobias’ Nackenhaare stellten sich auf.
Als sich die Türen öffneten, trat er ein. Der Waggon war fast leer, bis auf einen alten Mann, der mit gesenktem Kopf am Fenster saß. Die Luft war stickig, erfüllt von einem eigenartigen, modrigen Geruch.
Die Türen schlossen sich hinter ihm mit einem dumpfen, endgültigen Geräusch. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Die Fahrt begann.
Stunde 2: Der Fremde ohne Augen
Nach einer Weile spürte Tobias eine seltsame Präsenz. Er blickte auf und sah, dass jemand den Gang entlangging. Der Mann war groß, in einen langen, dunklen Mantel gehüllt. Sein Gesicht lag im Schatten, doch als er näher kam, wurde etwas klar: Er hatte keine Augen.
Nur zwei tiefe, schwarze Höhlen starrten Tobias an.
Der Mann blieb direkt neben ihm stehen. Seine Lippen verzogen sich zu einem unnatürlich breiten Lächeln, das viel zu viele Zähne zeigte.
„Fahren Sie auch… bis zum Ende?“
Tobias’ Herz hämmerte. Er konnte nicht antworten. Der Mann lachte leise, dann drehte er sich um – und verschwand im nächsten Waggon.
Doch sein Mantel lag noch auf dem Sitz gegenüber.
Stunde 3: Das Flüstern
Tobias lehnte sich zurück und versuchte, seinen rasenden Puls zu beruhigen. Er atmete tief durch, schloss die Augen. Doch dann hörte er es.
Flüstern.
Erst leise, kaum wahrnehmbar. Dann wurde es lauter. Eine Vielzahl von Stimmen, die sich überlagerten, wispernd, rauschend, zischend.
Er riss die Augen auf. Niemand war da.
Aber die Stimmen… sie kamen aus den Lüftungsschlitzen.
Er beugte sich vor, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er lauschte.
„Steig aus… solange du kannst…“
Er fuhr erschrocken zurück. Doch da war noch eine andere Stimme, dunkler, tiefer, direkt neben seinem Ohr:
„Nein… bleib.“
Stunde 4: Die Gestalt in der Spiegelung
Die Fenster des Zuges waren dunkel, die Nacht dahinter undurchdringlich. Tobias wandte den Blick ab – doch im Augenwinkel sah er eine Bewegung.
Sein Spiegelbild.
Aber es bewegte sich nicht so, wie es sollte.
Als er sich langsam dem Fenster näherte, spürte er seinen eigenen Atem beschleunigen. Sein Spiegelbild grinste ihn an. Doch er selbst hatte seinen Mund nicht bewegt.
Langsam hob die Reflexion die Hand, legte sie gegen die Scheibe – und klopfte.
Tok. Tok. Tok.zu
Das Geräusch hallte durch den Waggon.
Dann hörte es auf. Sein Spiegelbild drehte ruckartig den Kopf zur Seite. Als würde es auf etwas hinter Tobias blicken.
Er drehte sich um.
Der alte Mann vom Fenster saß noch immer regungslos da. Doch seine blinden Augen waren nun direkt auf Tobias gerichtet.
Stunde 5: Die blutige Station
Der Zug bremste abrupt. Tobias’ Körper wurde nach vorne geschleudert. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er nach draußen.
Eine Station. Doch sie war… falsch.
Der Boden war rissig, als hätte etwas Riesiges ihn zerfetzt. Die Wände waren mit dunklen, feuchten Flecken bedeckt, die sich langsam bewegten – als würden sie atmen.
Tobias sah eine Person auf dem Bahnsteig stehen. Eine Frau. Ihre Kleidung war zerfetzt, ihr Körper voller blutiger Wunden. Ihre Augen waren schwarz, leer.
Sie öffnete den Mund, um zu schreien – doch kein Laut kam heraus.
Dann zog der Zug weiter. Die Türen hatten sich nie geöffnet.
Aber eine kalte, nasse Handabdruck erschien auf der Scheibe neben Tobias.
Stunde 6: Die Hand unter dem Sitz
Tobias setzte sich vorsichtig wieder hin. Der gesamte Waggon fühlte sich enger an.
Dann spürte er es.
Etwas streifte seinen Fuß.
Sein Atem stockte. Ganz langsam beugte er sich vor und linste unter seinen Sitz.
Da war eine Hand.
Sie war bleich, fleckig, die Finger unnatürlich lang. Sie krallte sich am Boden fest, bewegte sich langsam vorwärts.
Tobias sprang panisch auf. Die Hand zog sich zurück – aber nicht ganz. Sie wartete.
Auf ihn.
Stunde 7: Die Dunkelheit kommt
Die Lichter im Waggon begannen zu flackern. Tobias’ Nerven lagen blank.
Dann gingen sie aus.
Absolute Dunkelheit.
Er hörte schwere Atemzüge. Schritte. Kratzen an den Wänden.
Etwas war hier.
Er zog sein Handy hervor, versuchte, das Licht einzuschalten – doch es zeigte nur einen einzigen Satz auf dem Display:
„DU SOLLST NICHT SEHEN.“
Dann spürte er einen heißen Atem an seinem Nacken.
Stunde 8: Die lebenden Sitze
Als das Licht zurückkehrte, war Tobias nicht mehr allein.
Die Sitze waren nicht mehr leer. Überall saßen reglose Gestalten, ihre Gesichter bleich und ausdruckslos.
Sie starrten ihn an. Gleichzeitig.
Dann begannen ihre Münder sich zu bewegen. Sie flüsterten. Summten.
Der alte Mann lächelte endlich.
„Jetzt sind wir vollständig.“
Stunde 9: Der Schatten erwacht
Tobias spürte, wie sein Körper immer schwerer wurde. Er konnte sich kaum noch bewegen.
Dann sah er es.
Einen Schatten, der sich aus seinem eigenen Körper löste. Er formte sich zu einer dunklen, knochigen Gestalt, deren Gesicht… seins war.
Es grinste.
Dann sprang es ihn an.
Stunde 10: Ankunft…und Tod
Als der Zug hielt, war Tobias mehr tot als lebendig.
Er stolperte hinaus, seine Haut blass, sein Blick leer. Sein Körper fühlte sich nicht mehr an wie seiner.
Hinter ihm schlossen sich die Türen.
Der Zug fuhr weiter.
Ein letzter Blick ins Fenster zeigte ihm sein Spiegelbild.
Es winkte ihm zu. Und lachte.
Der Zug verschwand in der Dunkelheit, auf der Suche nach dem nächsten Passagier.
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